Nach einer Regenperiode mit intensiven Niederschlägen, wenigstens auf der Nordseite der Alpen, sehen die Wetterprognosen ziemlich erfreulich aus. So entschliesse ich mich diesmal kurzerhand auf der Südseite der Schweiz, genauer im Grossraum Engadin / Stilfserjoch ein paar Pässe zu fahren. Weil ich diesmal keinen Notebook dabei hatte, sondern lediglich ab und zu via Handy ein e-Mail am meine Homepage senden konnte, sollen die folgenden Zeilen in diesem Sinne eine Zusammenfassung meiner zweitägigen Fahrt sein.
Dienstag, 19. September 2006:
Nach knapp vierstündiger Fahrt mit den SBB und der Räthischen Bahn, stelle ich kurz nach 10 Uhr meinen Renner in Samedan auf die Strasse. Das Wetter ist nicht ganz wie erhofft. Die Temperatur liegt um 15 Grad, der Himmel ist bewölkt, es sieht aber nicht nach Regen aus. Es weht ein relativ kühler Wind durch das Engadin.
Schon nach wenigen Kilometern in Richtung Pontresina und Berninapass, wird mir klar, dass ich zumindest den Windstopper und die Ă„rmelstulpen ĂĽberziehen muss. Die Beine stecken in einer halblangen Hose. Die Strasse auf den Berninapass ist eine eher “milde” Angelegenheit, so dass ich immer wieder Gelegenheit habe, das Panorama ins Roseggtal und später zum Morteratschgletscher zu geniessen. Auffällig auch, dass viele Touristen mit Autocars hier her gekarrt werden, nur um ein Foto zu schiessen. Zugegeben; das rote, vielleicht auch das gelbe Berninabähnchen im Vordergrund, die grĂĽnen Lerchen dazwischen, dann der weisse Morteratschgletscher mit einem blauen Himmel im Hintergrund: viel mehr Fotoerlebnis kann man nicht mehr bieten. Nur, heute ist der Himmel grau und das Bähnchen lässt auf sich warten.
Bald einmal bin ich auf dem Berninapass angekommen, schiesse meine obligaten Passfotos, versuche etwas guten Hintergrund zu bekommen. Die Talfahrt durch das Puschlav hinunter breche ich schon nach wenigen Kilometern ab und zweige in Richtung Schnapsparadies, Livigno, ab. Dazwischen der Forcla di Livigno. Die Auffahrt zwar nur gerade vier Kilometer lang, aber ĂĽberraschend steil. Von der Passhöhe weht ein starker und kĂĽhler Wind herunter, so dass ich mir einen Moment lang ĂĽberlege, eben doch unten durch, ĂĽber Tirano nach Bormio zu fahren. Zu gross aber die Verlockung, auf dem Weg ĂĽber Livigno, drei Pässe auf einen Schlag “erobern” zu können.
Nach dem Forcla di Livigno geht es dann ziemlich zĂĽgig während etwa vierzehn Kilometern hinunter. Der Himmel weiterhin bedeckt, kalter Wind, kaum Aussicht auf die umliegenden Berge, aber weiterhin kein Regen. Von Livigno ĂĽber den Passo d’Eira und etwas später ĂĽber den Passo die Foscagno. Beide Pässe sind leider nur auf der Strassenkarte als Pass angeschrieben. Die Italiener scheinen kein grosses Gewicht auf ihre Passnamen zu geben. Auf dem Foscagno finde ich wenigstens noch ein Haus, mit der Bezeichnung des Passes. Auf dem Passo d’Eira scheint im Winter einiges los zu sein, denn da stehen Sessellifte und Skilifte herum. Auch ĂśberfĂĽhrungen ĂĽber die Strasse, vermutlich bedingt durch die PistenfĂĽhrung im Winter, sind vorhanden.
Bei der Abfahrt vom Foscagno hinunter nach Bormio, eröffnet sich rechterhand eine wunderbare Aussicht auf Gletscherberge. Auch sind hier die Lerchen bezüglich ihrem Farbwechsel nach Gelb, deutlich weiter als im Engadin. Die Strasse bis nach Bormio hinunter weist eine einzige Spitzkehre auf, ist ansonsten sehr gut ausgebaut und lässt selbst mit dem Renner sehr hohe Tempi zu. Zu aller Freude, wird auch das Wetter endlich wärmer. Die Sonne beginnt zu scheinen, so dass ich, trotz der Abfahrt, endlich wieder meinen Windstopper und die Ärmelstulpen ausziehen kann. In Bormio zeigt das Thermometer immerhin 22 Grad an. Die Strasse aus dem Tal der Bormina mündet nur wenig oberhalb Bormio in die Passstrasse zum Stilfserjoch.
Ich mache hier meine erste grössere Pause, verpflege mich aus dem Rucksack, mache noch etwas Kartenstudium, ĂĽberprĂĽfe die “Distanz zum Ziel” gemeldet von meinem GPS. Denn vor mir stehen jetzt 18 Kilometer Passstrasse und etwa vierzehnhundert Höhenmeter. Im Schnitt zwar nur knapp 8%, aber mit den ebenen StĂĽcken dazwischen, dĂĽrfte sich der Rest der Strecke hart an der 10% Grenze und leicht darĂĽber befinden.
Ich fahre gemächlich los, anfänglich mit leichtem Rückenwind aus dem Tal herauf, später dann etwas Gegenwind, bevor fast absolute Windstille einkehrt. Ab der Kurve 35 bemerke ich, dass die Kurven auch auf dieser Seite des Stilfserjoches nummeriert sind. Das Tal ist steinig, die Waldgrenze lasse ich schon bald hinter mir, noch etwas Gebüsch, doch auch dieses macht bald einer mageren Grasnarbe Platz. Auf einer längeren geraden Strecke sind mehrere Tunnels zu durchfahren, typisch italienisch: nass, kalt, unbeleuchtet, unbelüftet und eng. Verkehr, ausser ein paar Motorrädern und etwas weniges Ferienverkehr, gibt es auf dieser Strecke nicht. Ganz hinten im Tal, endlich eine längere Passage mit vielen Spitzkehren. Die Strasse schraubt sich hier regelrecht in die Höhe bevor sie dann nach einem längeren, fast flachen Stück, in eine andere Geländekammer einmündet. Hier sehe ich erstmals das Stilfserjoch vor mir. Noch ist es weit. Aber etwa zwei Drittel von Kilometern und Höhenmetern sind geschafft.
Weitere Spitzkehren sind in Sichtweite. In diesem engen Tal, gibt es um diese Zeit, wenigstens im Herbst, keine Sonne mehr. Auch bläst wieder ein kühler Wind von den Bergen herunter. Ärmelstulpen und Windstopper sind übergezogen. Die Fahrt (die Qual?) geht weiter. Abzweigung zum Umbrailpass ist vorbei. Noch etwa drei Kilometer bis zur Passhöhe. Auf der Passhöhe leuchtet die untergehende Sonne noch ein letztes Mal die Hotels und die anderen Häuser an, während sich die Berggipfel immer noch in dicke Wolken gehüllt haben.
Dann, kurz vor 19 Uhr ist es geschafft. Die Tafel von der Passhöhe ist fotografiert. Gleich dahinter das Hotel “Genziana”. Ich entschliesse mich, die Fahrt fĂĽr heute an dieser Stelle abzubrechen. Vermutlich wäre es zu gefährlich gewesen, in der heraufkommenden Nacht noch ins MĂĽnstertal hinunter zu fahren.
Mittwoch, 20. September 2006:
Das Thermometer vor dem Hotel zeigt frühmorgens drei Grad an. Aber dafür haben wir einen wolkenlosen Himmel. Die Sonne steigt gerade von den obersten Berggipfeln herunter und taucht die Felswände in eine eigentümlich rote Farbe.
Ich geniesse das Morgenessen. FĂĽr italienische Verhältnisse sehr reichhaltig. (Velofahrer sind in diesem Hotel “Genziana” willkommen, steht ja schliesslich ĂĽber der TĂĽre). Kurz nach acht Uhr verlasse ich das Hotel, eingepackt in so ziemlich alles, was irgendwie warm geben könnte. Allerdings nicht ohne einen Blick von der Passhöhe in Richtung Trafoi, die typische Stilfserjoch-Passstrasse zu werfen.
Meine Abfahrt mache ich allerdings hinunter in Richtung Umbrailpass. Von dieser Seite ist er nur gerade eine kleinste Gegensteigung. Nur wenige Höhenmeter geht es hinauf und anschliessend dann ins Münstertal hinunter. Die ersten 1000 Höhenmeter (Sta. Maria) sind bald vernichtet. Die Temperatur ist aber nur unwesentlich gestiegen. Das Münstertal liegt im Schatten und so fahre ich weiter bis kurz vor Glurns. An einem Waldrand entledige ich mich endlich meiner wärmenden Kleider und packe deshalb auch den Rucksack nochmals neu. Die ersten 30 Kilometer habe ich bis jetzt mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von knapp 40 Kilometer zurückgelegt. War aber kein Kunststück, denn schliesslich bin ich jetzt ja auch etwa 1800 Meter tiefer als bei der Abfahrt. Übrigens: das ungeteerte Stück Strasse am Umbrail ist knapp drei Kilometer lang und besteht aus festgefahrenem Sand und Kieselsteinen.
Die Auffahrt auf den Reschenpass ist bald geschafft. Die Spitzkehren bieten mit zunehmender Höhe schon fast spektakuläre Aussichten zurück in Richtung der Bergkette mit dem Stilfserjoch. Auch in Reschen werden carweise Touristen zum Fototermin mit der Alpenwelt ausgeladen. Heute, mit dem blauen, wolkenfreien Himmel, ein besonders schöner Anblick, währe da nicht das Gegenlicht.
Die eigentliche Tafel mit dem Pass befindet sich beim Reschenpass schon deutlich unter der eigentlichen Passhöhe. Fast hätte ich sie verpasst. Auf einer gut ausgebauten Strasse geht es hinunter bis fast nach Nauders und von dort über einen kleinen Zwischenhügel ins Engadin, nach Martina. Kurz vor der Mittagszeit treffe ich hier ein, möchte mir in einem der Dörfchen Martina, Chaflus, Srada oder Ramosch einen Mittagstisch suchen. Doch da ist alles zu. Ich glaube die Umfahrungsstrasse hat die Dörfchen entvölkert. Wohl stehen da ein paar angeschriebene Häuser herum, doch keines macht den Eindruck, als ob da etwas aufgetischt würde. So fahre ich denn bis nach Scuol hinauf, finde dort im Hotel/Restaurant Bellaval (Radfahrer willkommen) einen gedeckten Tisch.
Kartenstudium, Planung des Nachmittags und Höhenmeter-rechnen bis ich mich dazu entschliesse, noch die Flüela zu fahren. Kurz nach zwei Uhr verlasse ich das Restaurant in Richtung Susch. Etwas nach drei Uhr beginne ich mit dem Aufstieg auf die Flüela. Im unteren Teil ist sie steil, wie mir scheint, sogar sehr steil. Es folgt um die Waldgrenze herum ein etwas flacheres Stück, bevor dann gegen den Schluss nochmals Spitzkehren mit ziemlich viel Höhenmetergewinn zu bewältigen sind. Kurz vor der Passhöhe abermals ein ziemlich flaches Stück und dann endlich die beiden Seelein mit der Passtafel.
Den ganzen Tag hindurch hatte ich bis jetzt wunderbares Wetter. Im Herbst allerdings, wenn die Sonne nicht mehr auf so einer hohen Laufbahn den Tag verbringt, ist in den schmalen Tälern viel Schatten anzutreffen. Verbunden mit den zwar schwachen, aber doch meist vorhanden Winden, wird es dann teilweise ziemlich kühl. Spätestens seit Susch, habe ich mir deshalb wieder Windstopper und Ärmelstulpen übergezogen.
Während der Abfahrt nach Davos spĂĽren dann auch die Finger diese empfindliche Kälte. Von Davos ĂĽber den Wolfgangpass, der von dieser Seite her allerdings kaum der Rede wert ist, weiter nach Klosters hinunter. Dunkle, kalte und feuchte Stellen entlang von Felswänden fordern den Fingern abermals einiges “Durchbremsvermögen” ab.
In Klosters scheint noch einen Moment lang die Sonne. Von den Überlegungen beim Mittagessen weiss ich, dass es ab Klosters bis Landquart noch gut 40 Kilometer sein werden. Ich möchte um spätestens 19.15 in Landquart sein. Höhenmeter erwarte ich keine mehr, höchstens noch flache Stücke. Im Kopf rechnet es wieder einmal: doch zum Schluss siegt die Risikofreudigkeit. Ich fahre in einem Höllentempo nach Landquart. Fast alles auf der grossen Scheibe, die gefahrene Durchschnittsgeschwindigkeit erhöht sich laufend. Komme mir vor wie ein richtiger Gümmeler: nur noch die Rücklichter/Bremslichter der übeholenden Autos im Blickfeld. Dazwischen immer wieder ein Blick auf meine aktuelle Geschwindigkeit und die Restdistanz bis nach Landquart.
Die Autos zweigen dann ab auf eine neue Verbindungsstrasse, während die Radfahrer auf der alten Kantonsstrasse das Prättigau hinunter brettern dürfen. Die zwei Landwirtschaftsfahrzeuge zu überholen war keine Sache, bei den beiden Rennfahrern hatte ich schon etwas mehr Mühe. Gegenverkehr gab es glücklicherweise keinen auf dieser Strasse. Zwei oder drei heiklere Situationen in Dörfchen waren zu meistern und einmal musste ich auch noch den Bidon auffüllen, denn der Durst ist ja zeitunabhängig.
Um 19:05 war es geschafft. SBB-Bahnhof Landquart, Tageskarte für den Renner lösen, und um 19:26 den Renner in den Postwagen gehängt. Dies nach einer zweitägigen Fahrt die meiner Ansicht nach wirklich alles zu bieten hatte, was man vom Fahren mit dem Renner erwarten darf:
- kein Regen, vielleicht manchmal etwas kalt
- fast einen ganzen Tag nur Sonnenschein, mal von den schmalen Tälern und den Abendstunden abgesehen
- 9 Pässe (wobei der Wolfgangpass und der Umbrailpass eher für die Statistik zählen.
- Mühsame, manchmal vielleicht quälende Auffahrten, für die man aber auf meist wunderbaren Strassen bei der Abfahrt wieder entschädigt wurde
- viele, schöne Bilder im Kopf, von Schneefeldern, Gletschern, Seen auf Pässen, Morgenröte an Alpenkämmen
- Dutzende von Kilometern Abfahrt in Höchstgeschwindigkeit (tut eben trotz aller Vorsicht und Umsicht, doch mal gut, so richtig losbrettern zu können.
- knapp 5500 Höhenmeter und etwa 280 Kilometer in nur zwei Tagen.